Das Boot ist voll
Markus Imhoof, Austria, Germany, Switzerland, 1981o
During the Second World War, a group of Jewish refugees manages to secretly cross the border from Germany to Switzerland. But their apparent salvation proves to be deceptive: they are first halfheartedly tolerated and then finally betrayed. To save themselves and to meet the official requirements for admission to the country, the diverse group pretends to be a single family.
Das Gegenstück und 1981 das historisch überfällige Korrektiv zum Geschichtsklitterungsdrama Die letzte Chance von 1945, in dem die Schweiz im Namen altväterischer Humanität mitten im Krieg ein Auge zudrückt und eine Gruppe jüdischer Flüchtlinge ins angeblich volle Boot Schweiz lässt. Markus Imhoofs historisches Verdienst bei seiner realitätsnahen Variierung des Themas besteht in der Fairness, mit der er individulle Feigheit und Mut der damaligen SchweizerInnen angesichts einer politischen Lage zeigt, die einen guten Kompromiss kaum zuliess und am Ende schlicht das Interesse der Mehrheit über jenes der in den Tod geschickten Minderheit stellte. Das alles aber wäre auch schon wieder vergessen, wenn der Inszenierungs-Perfektionist Imhoof die frei erfundenen menschlichen Minidramen in diesem wahren Drama der Geschichte nicht genau so facettenreich und lebensecht zu zeichen wüsste wie seinerzeit Leopold Lindtberg die seinen.
Andreas FurlerImhoof's forlorn, Oscar-nominated film, based in part on a work of history by Alfred A. Hasler, depicts this little-known facet of the Holocaust years in wrenching psychological detail. Imhoof draws strong performances from his entire cast, telling a tragic story of desperation, camaraderie, and bureaucratic cruelty.
John FarrAufgrund des gleichnamigen Buchs von Alfred A. Häsler und eines Berichts über eine zusammengewürfelte Gruppe Flüchtlinge, die sich als Familie ausgab, weil sie hoffte, als solche aufgenommen zu werden, schildert Das Boot ist voll ungeschönt, wie die Schweiz mit denen umging, die es aus Nazi-Deutschland über die Grenze schafften. Die Flüchtlinge «retten sich ins Verderben» (Friedrich Dürrenmatt); Imhoof verleiht seinem Film jenen pechschwarzen Schluss, den sein Mentor Lindtberg für Die letzte Chance wegen der Zensur 1945 nicht drehen konnte. (Auszug)
Michael BodmerDas wird bleiben. Selten hat ein Spielfilm so wirkungsvoll und schmerzhaft ins gute Gewissen der Schweiz gestochen wie Markus Imhoofs Das Boot ist voll aus dem Jahr 1981. Er erzählte von der behäbigen neutralen Unmenschlichkeit, mit der dieses Land im Zweiten Weltkrieg jüdische Flüchtlinge behandelte und der deutschen Vernichtungsmaschinerie zuarbeitete. Wer es wirklich noch nicht wusste, erfuhr durch eine exemplarische Fiktion, dass das sanfte Ruhekissen der Nation nur ein mit historischen Ausreden überzogener Haufen Lügen war. Im Film wurde die individuelle Menschlichkeit gewürdigt, wie sie es verdiente; und am Ende spiegelte sich in Das Boot ist voll ein grosses moralisches Versagen im kleinen.
Christoph SchneiderGalleryo
Am Freitag läuft im Zürcher Kino «Movie» der neue Schweizer Spielfilm Das Boot ist voll des Autors und Regisseurs Markus Imhoof (Fluchtgefahr, Tauwetter) an. Der Film, der im Jahr 1942 spielt, erzählt die Geschichte einer Gruppe von Flüchtlingen aus Nazi-Deutschland, die illegal über die Grenze kommen, und berichtet, wie es ihnen hierzulande ergeht. Pierre Lachat sprach mit Markus Imhoof.
In welchem Mass beruht Das Boot ist voll auf dem gleichnamigen Buch von Alfred A. Häsler? Wie hast du das darin versammelte Material verarbeitet?
Mich kümmert bei diesem Film weniger der historische Aspekt an und für sich als vielmehr die Möglichkeit, Geschichtliches für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Die historischen Fakten waren für mich nur insofern von Belang, als sie nicht falsch sein durften. Immerhin, es gibt eine Zeitungsmeldung aus jenen Jahren, auf der die Geschichte, die der Film erzählt, weitgehend beruht. Das besondere an jenem konkreten Fall war, dass die Polizei beim Eintreffen der Flüchtlinge nicht sogleich auf den Plan trat. Dadurch konnten sie grössere momentane Hoffnungen schöpfen, bleiben zu dürfen. Doch sind auch andere Elemente aus dem Buch in die Geschichte eingeflossen, solche, die nichts mit der genannten Meldung zu tun haben: das Rollenspiel der Flüchtlinge zum Beispiel, die falsche Angaben zur Person machen. Im Übrigen habe ich versucht, nicht allzu stark am Historischen zu haften und die Geschichte auch von meinen persönlichen Interessen her zu konstruieren, so besonders von meiner Urangst her, der vor dem Gefangensein überhaupt. Ich wollte den Film sozusagen im Präsens erzählen, so weit das möglich war. Sollte jetzt trotzdem nur ein Versuch herausgeschaut haben, Vergangenheit zu bewältigen, so würde ich das nicht schlecht finden. Denn ich fühle mich, was mein Geschichtsbild der Schweiz angeht, betrogen. In der Mittelschule machte der Geschichtsunterricht beim Jahr 1914 halt. Im Kavallerie-WK mussten wir im Randengebiet supponierte Flüchtlinge jagen. Ich ritt mit, ohne mir etwas dabei zu denken. Das beschämt mich heute noch.
Ist die Kavalleriepatrouille, die im Film die Flüchtlinge im entscheidenden Moment stellt, historisch belegt oder erfunden?
Pure Erfindung, das bin sozusagen ich selbst im Film. Auch dass die Flüchtlinge noch einmal zu fliehen versuchen, vor den Schweizer Behörden diesmal, ist erfunden. Ich wollte die Schweizer im Bild, vor allem den Wirt Franz, in Gewissenskonflikte bringen, sie gleichsam selbst zu Flüchtlingen machen. Immerhin, der Vater von Mathias Gnädinger (des Darstellers des Wirts) ist Schreiber in einer Grenzgemeinde: Er hat uns, allerdings erst, als das Drehbuch schon fertig war, eine selbst erlebte Geschichte von damals erzählt, die viel Ähnlichkeit mit der unseren hat, jedenfalls, was die Rolle der Kavallerie betrifft.
Die Vorliebe der Fernsehproduzenten für historische Stoffe ist bekannt, und sie haben ja deinen Film massgeblich mitfinanziert. Hast du da Kompromisse gemacht, oder ist die Übereinstimmung zufällig?
Sie ist zufällig. Schliesslich habe ich das Projekt den Verantwortlichen beim Fernsehen vorgeschlagen, auch wenn es dann sofort ihr Interesse gefunden hat und die Finanzierung (dank glücklichen Umständen) keine grossen Probleme stellte. Ich habe es vorgeschlagen, weil mich das Thema des Lebens in der Fremde ganz persönlich angeht, lebe ich doch, seit nunmehr drei Jahren, in Mailand. Ich lebe dort, weil hier in der Schweiz alles so durchschnittlich und also fürs Dramatische unfruchtbar ist. Die einzige Situation, in der jeweils Dramatisches sichtbar wird, ist dann eben eine solche, wie ich sie im Film beschreibe. An ihrem Beispiel will ich zeigen, dass heute, gegenüber damals, gar nicht so vieles anders ist, auch wenn es weniger scharf zum Ausdruck kommt. Die Kriegszeit beschäftigt mich insofern als Katalysator für die Gegenwart, für Dinge. die es auch heute noch gibt. Ich zeige durchschnittliche Schweizer, die wohl auch heute, in ähnlichen Situationen, ähnlich reagieren würden.
Die im Zweiten Weltkrieg geprägte Formel Das Boot ist voll wurde zu einem festen Bestandteil im Diskurs um die schweizerische Asyl- und Flüchtlingspolitik.
Es gibt die Vorstellung, dass negative Erfahrungen so etwas wie Veto-Instanzen bilden, die eine Wiederholung verhindern oder erschweren. In Deutschland betrifft dies die Salonfähigkeit von Rechtsextremismus, in der Schweiz den Verrat an der humanitären Flüchtlingspolitik.
Wiederholung vermeiden wollen setzt allerdings voraus, dass sich historische Herausforderungen wiederholen, was - als simple Zweitauflagen - kaum je der Fall ist. Zudem ist es ein Irrtum zu meinen, dass aus der Zeit vor 1945 eindeutige Erfahrungen vermittelt und daraus einheitliche Schlussfolgerungen gezogen werden können. Bereits damals konnte man trotz der praktizierten Abweisung von Flüchtlingen die nationale Ideologie aufrechterhalten, dass man ein ideales Land für Flüchtlinge sei.
Inwiefern nun bildeten die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges nach 1945 eine wegleitende Mahngrösse? Man kann die Nachwirkung an der im Zweiten Weltkrieg geprägten Formel «Das Boot ist voll» ablesen. Wenige Wochen nachdem Bundesrat Eduard von Steiger das Bild vom «schon stark besetzten kleinen Rettungsboot» lanciert hatte, nahm es Nationalrat Albert Oeri wieder auf und erklärte, das Boot sei noch lange nicht überfüllt. Bei Kriegsende war das Bild vom Rettungsboot nicht vergessen.
Die «richtigen Flüchtlinge»
Eine 1945 erschienene Schrift von Werner Schmid über die schweizerische Aussenpolitik kritisierte im Kapitel mit dem Titel «Überfülltes Boot?» die restriktive Flüchtlingspolitik. Die gleich nach Kriegsende entstandenen, aber erst 1967 publizierten Flüchtlingserinnerungen von Max Brusto kamen unter dem Titel «Im Schweizer Rettungsboot» heraus. Alfred A. Häslers Buch «Das Boot ist voll», 1967 in einer Phase intensivierter Auseinandersetzung mit den Kriegsjahren publiziert, sorgte dafür, dass die Metapher zum zentralen Bild der Flüchtlingspolitik der Jahre 1933 bis 1945 wurde. Motiviert durch dieses Buch und angeregt durch die Debatten um die amerikanische Holocaust-Fernsehserie von 1979, schuf Markus Imhoof 1981 den mit einem Berliner Bären ausgezeichneten Flüchtlingsfilm Das Boot ist voll.
Häsler wie Imhoof sprachen sich mit ihren Werken indirekt auch dafür aus, dass die aktuelle Flüchtlingspolitik der Schweiz dem hohen humanitären Ideal zu entsprechen habe. Ihre Arbeiten waren aber primär Äusserungen zur Vergangenheit. Bis Ende der 1970er-Jahre war - mit oder ohne Zuhilfenahme der Bootsmetapher - eine engagierte Fürsprache für die Flüchtlingshilfe gar nicht nötig, weil damals nur wenige und zumeist die «richtigen» Flüchtlinge kamen. Die Fremdenfeindlichkeit der 1960er- und 1970er-Jahre galt nicht den «Asylanten», sondern den klassischen Arbeitsmigranten. Gegen die Flüchtlinge aus Chile allerdings, die 1973/74 nach dem grossen Konjunktureinbruch in die Schweiz kamen und tendenziell dem linken Lager zuzuzählen waren, machte die nationalistische Rechte Opposition. Bundesrat Furgler trat ihr damals noch mit dem Argument entgegen, dass man die Lehren aus dem letzten Krieg beherzigen müsse. Bei den 1979 in die Schweiz geflohenen Südvietnamesen handelte es sich wie im Falle der Flüchtlinge aus Ungarn (1956) und der Tschechoslowakei (1968) um Opfer eines kommunistischen Regimes, weshalb sie einen gewissen Sympathiebonus genossen.
Zehntausende von vietnamesischen «Boatpeople» versuchten, im Sommer 1979 in den Westen, unter anderem auch in die Schweiz, zu fliehen. Die «Weltwoche» setzte am 27. Juni 1979 über ein Bild mit einem überfüllten Boot in grossen Lettern den Titel «Unser Boot ist nicht voll». Im begleitenden Text hiess es, man müsse jetzt und heute helfen und nicht in zehn Jahren «erneut» selbstkritisch feststellen, «was wir - im Wissen um die grauenhafte Wirklichkeit - unterlassen haben und dass wir durch allzu grosse Vorsicht und Zurückhaltung wieder einmal mitschuldig geworden sind am Tode von Menschen, die hätten gerettet werden können. Holocaust II findet gerade statt.» In der folgenden Ausgabe wurde die Parallelität mit der Feststellung noch deutlicher gemacht, das Drama im Fernen Osten sei in seiner Tragik und in seinem Ausmass «nur mit der Vernichtung der Juden durch Hitler vergleichbar».
Der Bundesrat gab durch Justizminister Kurt Furgler zu verstehen, dass er diese verzweifelte Flucht ebenfalls als grosses Drama einstufe: Es handle sich um ein «apokalyptisches Geschehen», der Staat habe die Pflicht, das «Menschenmögliche» zu tun. Aber er meinte, das Erforderliche und Mögliche zu tun, indem er verkündete, für 1979 ausser den bereits aufgenommenen 650 Flüchtlingen weitere 350 und im folgenden Jahr 1980 nochmals 1000 aufzunehmen. Die Hilfswerke vertraten jedoch die Auffassung, dass diese Zahl eindeutig zu niedrig sei und man bereits bis zum Jahresende 2000 Menschen aufnehmen könnte. Die «Weltwoche» forderte, es seien bis Ende 1980 sogar 10 000 Flüchtlinge aufzunehmen. Sie erntete mit ihrer Kampagne und rund 1000 Leserrückmeldungen nach eigener Angabe über 90 Prozent Zustimmung.
Im kollektiven Gedächtnis verankert
Dieses Beispiel deutet darauf hin, dass die historische Erfahrung offenbar doch eine bestimmende Leitgrösse für aktuelle Haltungen sein kann. Dafür mussten aber zwei Voraussetzungen gegeben sein: Es brauchte erstens einen agierenden Vermittler und zweitens eine Gesellschaft mit einem Resonanzboden. Letzteres traf im Sommer 1979 zu, weil wenige Wochen zuvor der amerikanische Holocaust-Fernsehfilm auch in der Schweiz ausgestrahlt worden war. So konnte denn auch der Präsident der Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes den Gegensatz zwischen der Betroffenheit über die Fernsehserie und der «Teilnahmslosigkeit an den Tragödien unserer Zeit» kritisieren.
Der wichtigste Agent dieser Kampagne war Alfred A. Häsler, der Autor des 1967 erschienen Buches «Das Boot ist voll». Häsler war allerdings nicht der Einzige, der den Bezug zur Haltung im Zweiten Weltkrieg herstellte. Schon im Mai 1979, während der Ausstrahlung der «Holocaust»-Serie, hatten die Flüchtlingswerke unter expliziter Ablehnung der «Boot ist voll»-These eine grosszügigere Haltung gegenüber den Hilfesuchenden aus Südvietnam gefordert. Der Geschichtsbezug dürfte das Selbstverständnis der Befürworter einer grosszügigen Flüchtlingshilfe gestärkt haben. Die Metapher des Bootes wurde zu einem festen Bestandteil des schweizerischen Diskurses in Flüchtlingsfragen. In der Bekämpfung der am 1. Dezember 1996 schliesslich abgelehnten Anti-Asylinitiative der SVP kam eine Karikatur zum Zug, die auf die Bootsmetapher von 1942 Bezug nahm und darauf aufmerksam machte, dass das Schweizer Boot kippen würde, falls allzu viele auf die Seite der rechten Bordwand rutschten. Es musste aber nicht immer eine Darstellung sein, das Bild war bereits im kollektiven Gedächtnis verankert. So konnte das auflagenstarke Konsumentenblatt «Brückenbauer» im März 1997 über einen Artikel zur bevorstehenden Rückschaffung von Kosovo-Flüchtlingen den Titel setzen «Das Boot ist wieder voll». Anderseits setzte der Journalist Johann Aeschlimann 1997 über einen Beitrag den Titel: «Das Boot ist leck».
2002 nahm die Kampagne der Schweizerischen Flüchtlingshilfe gegen die SVP-Asylinitiative ebenfalls Bezug auf die Kriegszeit. Aus dem gleichen Jahr stammt eine andere Karikatur, wiederum mit dem Bootsbezug: «Hilfe, das Boot ist schon wieder voll». Auch in diesem speziellen Kontext kam es mitunter zur bloss verbalenAnspielung auf die Bootsmetapher: «Und schon wieder soll das Boot voll sein?» betitelte sogar die «Weltwoche» einen Beitrag zur SVP-Initiative. Historische Argumente setzen beim grossen Publikum ein minimales Wissen, aber auch ein emotionales Vorstellungsvermögen voraus.
Mit der seit 1995 wieder intensiver geführten Vergangenheitsdebatte wäre diese Voraussetzung, sofern die Sensibilisierung nicht wieder verpufft ist, auch heute wieder gegeben. Im Abstimmungskampf der letzten Wochen gegen das verschärfte Asylgesetz spielten historische Argumente aber kaum mehr eine Rolle. Heute stehen eher zeitlose Argumente wie «humanitäre Tradition» und die «internationale Verpflichtung» im Vordergrund. Beim grossen Publikum ist die Geschichte entweder vorbei und verbraucht oder wegen der Entschädigungsforderungen und des darauf folgenden Bergier-Berichts sogar zu einem negativen Bezugspunkt geworden.
Die Geschichte allein bewirkt nichts
Anders verhält es sich jedoch bei sozialen Gruppen, die eine lebendige Kontinuität zwischen dem Damals und dem Heute pflegen: Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) und der Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen (VSJF) unterstützten das Referendum gegen das neue Asylgesetz unter anderem mit der Begründung: «Das Schicksal der während des Zweiten Weltkrieges an den Grenzen zurückgewiesenen jüdischen und anderen Flüchtlingen ist uns auch heute noch präsent», diese hätten oft auch keine gültigen Reisepapiere gehabt. Bundesrat Christoph Blocher warf in einer Veranstaltung in Oensingen SO dem ehemaligen SIG-Präsidenten Rolf Bloch denn auch prompt vor, die Juden hätten noch immer die Zeit des Zweiten Weltkrieges im Kopf.
Wie die einen versuchen, mit der Geschichte auf die Gegenwart einzuwirken, versuchen andere aus einem bestimmten Gegenwartsverständnis heraus die Geschichte anders zu sehen. Die Leser der «Weltwoche» unserer Tage (die sich fundamental vom Blatt gleichen Namens zur Zeit von Alfred A. Häsler unterscheidet) erhielten kürzlich einen Artikel des Lausanner Ökonomen Jean-Christian Lambelet vorgesetzt, der die praktische Unfähigkeit, die Schweizer Grenze während des Zweiten Weltkrieges hermetisch zu schliessen, explizit als Tribut an die humanitäre Tradition des Landes interpretierte: «Die von der Schweiz gegenüber den Flüchtlingen praktizierte Politik war sehr grosszügig. (. . .) Die tatsächlich praktizierte Flüchtlingspolitik der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges (entsprach) sehr wohl der humanitären Tradition des Landes, und es besteht keinerlei Anlass, sich ihrer zu schämen.»
Historische Vorlagen könnten durchaus, wie Jean-Daniel Gerber in seiner Eigenschaft als Direktor des Bundesamtes für Flüchtlinge 2003 bemerkte, zur Selbstreflexion herausfordern. Das funktioniert aber nur, wenn man sich wirklich darauf einlassen will. Wer das nicht will, der bleibt davon weit gehend unberührt. Die Geschichte selbst bewirkt gar nichts. Und diejenigen, welche die Geschichte ins Spiel bringen, können an ihr zwar Orientierung und Kraft gewinnen. Der Wirkung ihrer auf die Geschichte bezogenen Argumentation sind jedoch enge Grenzen gesetzt.
Georg Kreis war Historiker an der Universität Basel. Eine ausführlichere Version dieses Beitrages mit Bild- und Textbelegen erschien in der «Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte» 2006, Heft 3.