Hereditary
Ari Aster, USA, 2018o
Annie lives with her husband and her two children on the edge of the forest. When Annie's mother Ellen, an old school matriarch, dies, the family is confronted with a series of mysterious and gruesome events. Little by little, the secrets of their ancestors come to light.
Horror, Komödie oder doch Familiendrama? Das weiss man nie so genau beim Langfilmdebüt von Ari Aster, der bisher mit schrägen Kurzfilmen wie «The Strange Thing About the Johnsons» auf sich aufmerksam machte. Der New Yorker spielt mit Genregrenzen, zeigt aber immer eine beinahe schon kindliche Freude daran, das Publikum zu schockieren mit schlimmen Bildern und noch schlimmeren Wendungen.
Gregor SchenkerAuf ihrer langsamen Fahrt ins Modellbauzimmer entwickelt die Kamera einen Sog, und das ist nur die erste von vielen Irritationen, die sich nach dem Tod der alten Dame mehren. Einfamilienhaus oder Miniaturkunstwerk, reale Trauer oder übersinnlicher Horror, Familiendrama oder Teufelswerk, die Übergänge sind fließend in Ari Asters Spielfilmdebüt. Lange wahren Toni Collette und Gabriel Byrne eine beunruhigende Balance, nur gegen Ende geraten die Geister außer Kontrolle.
Anke SterneborgL’écriture des personnages, le rythme délibéré, le timing parfait, la puissance graphique des moments forts, la direction d’acteurs (excellents, à commencer par Toni Collette), tout est pensé et exécuté avec une efficacité exceptionnelle. À tel point qu’on a envie d’y retourner illico.
Gérard DelormeGalleryo
Das Horrorkino steigt in den USA gerade zum Leitgenre auf. Mit «Hereditary» gibt es nun den ersten schockierenden Publikumserfolg.
Die Fussballjungen in Thailand sind gerettet, wir können durchatmen. Für einen Moment hatte man schon die Bilder vor Augen, wie so ein Knabe durch einen Stollen robbt und stecken bleibt. Zurück geht nicht, umdrehen geht nicht, Schweiss, panische Atmung. Geschichten aus dem Horrorkino. In diesem Fall aus «The Descent» von 2005, worin eine Gruppe von Höhlenkletterinnen in ein arg klaustrophobisches Gewölbe steigt. Dass man bestimmte Horrorfilme nicht mehr vergisst, könnte daran liegen, dass man sie eigentlich schon immer gekannt hat. Wie die Angst, die tief sitzt.
«The Descent» kann man sich deshalb immer wieder ansehen. Kürzlich besuchten auch gleich 10'000 Besucher das erste Wochenende des 18. Genrefilm-Festivals Nifff in Neuenburg. Darunter viele junge Menschen, die T-Shirts mit Slogans wie «Normal People Scare Me» trugen und nach den Vorführungen über die Mise en scène des Grauens redeten. Die Filme machten schon im Titel klar, dass es nicht gut ausgeht; sie hiessen «Piercing» oder «The Dark». Die Stimmung im Saal war immer hervorragend.
Virtuose Drastik
In letzter Zeit hat sich der Horrorfilm in den USA als intellektuelles Leitgenre empfohlen. Amerika ist ja das Land, in dem der Slasher-Film, in dem ein Serienmörder Jagd auf Teenager macht, erst so richtig aufblühen konnte. Die Kinder von «Halloween» sind heute Regisseure um die 30 und schreiben die überlieferten Codes der Horrorfilmgeschichte für die neue Zeit um.
Eine ganze Reihe von cleveren Varianten des Horrors war jüngst zu sehen: «It Follows», eine Abart des Slashers, erzählte davon, was geschieht, wenn Paranoia viral geht. «Green Room» interpretierte das Hinterwäldler-Motiv für eine Ära rechtsextremer Brutalität. Unter der linksliberalen Freundlichkeit von «Get Out» pochten Rassenhass und Ausbeutungsgelüste.
Natürlich trägt die sozialkritische Deutungsmacht des Schauderkinos zu seiner Profitabilität bei. Diese Woche ist «The First Purge» angelaufen, eine neue Folge der US-Horrorserie, die seit längerem von der schwachsinnigen Idee lebt, dass während ein paar Stunden jedes Verbrechen erlaubt ist. Die Partei, die so etwas erlaubt, heisst New Founding Fathers und erinnert an Trumps Wunsch-Regierung. Dass der Horror etwas zu bedeuten hat, lässt sich gut verkaufen. Auch weil die Bedeutungen jedem sofort auffallen.
Aber wie subtil war George Romero, der seine Zombies in «Dawn of the Dead» in die Shopping-Mall schickte? Überhaupt nicht, denn im Horrorfilm ist es nicht so, dass die Effekte plump wären und der soziale Kommentar feinsinnig, sondern andersherum: Die Symbolik ist deutlich, dafür ist die Drastik virtuos. All die offenen Knochenbrüche, all die Panikmomente, in denen wir finstere Räume auf Todesgefahren scannen: Horrorkunst.
Die neuste Schauergeschichte aus den USA heisst «Hereditary». Der Erstling des 32-jährigen New Yorkers Ari Aster wurde auch deshalb zu einem solchen Publikumserfolg, weil er uns in eine Situation versetzt, in der wir nicht mehr wissen, ob wir unseren Augen noch trauen können. Seine Eleganz liegt in seinem stilsicheren Umgang mit der Unsicherheit.
Das Unaussprechliche lauert
Der Schauplatz ist das amerikanische Einfamilienhaus; dunkler Parkett, Zeug auf dem Kaminsims, Treppe nach oben. Nur dass die Grahams etwas abgelegen wohnen, schon fast im Wald. Die Grossmutter ist gestorben, die Mutter (Toni Collette) sagt an der Beerdigung wenig Gutes über sie. Als sich die Künstlerin in der Werkstatt wieder an die Arbeit an ihren unheimlich realistischen Puppenhaus-Dioramen setzt, erscheint ihr ein Geist. Sicher eine Projektion der Trauer. Oder ist da etwas gehörig morsch im Stammbaum?
Immer enger zieht Ari Aster den Fokus auf die schreckerfüllten Gesichter der Familie Graham, die von nun an von einer unsichtbaren Macht bedroht wird. Immer wieder: leichte Drehung des Kopfs, und das Herz setzt aus. Immer wieder: aufgerissene Augen, und wir sehen nichts. Irgendwann sind wir uns einfach sicher: In «Hereditary» sind die Räume besessen. Und die Familie ist der erste Fluch: das Blut als Bannstrahl.
Weil das Horrorkino voller Potenziale steckt, was Repräsentationen und Tabubrüche angeht, kann es das Bild einer Familie so verzerren, dass es uns ungeheuer komisch vorkommt. Die Situationen sind wirklich zum Schreien: Einmal muss Sohn Peter seine seltsam in sich gekehrte Schwester Charlie, die bizarre Puppen bastelt und einen Schnalz-Tick hat, zu einer Party mitschleppen. Mühsam, und dann trägt sie auch noch ihren blöden Hoodie. Die Mutter hat dafür ein paar Stunden Ruhe vor den Kindern, muss man ja auch verstehen.
Dann die Abendessen, an denen die Luft wegen all des Ungesagten kurz vor dem Explodieren ist. So wie das Unaussprechliche in «Hereditary» ohnehin in allen Ritzen lauert. Ein emotionaler Terror, in dem es stets eine Entsprechung gibt zwischen unbeschreiblichem Gefühlsschmerz und dem Entsetzen über den Schrecken ringsum.
Hipster-Chic ist erkennbar
«Hereditary» weiss, dass der Horrorfilm eine populäre Form archaischer Rituale darstellt. Dass es der furchterregendste Kinofilm seit langem sein soll, wie viele schrieben: Nun ja, kommt drauf an, was man aushält. Es gibt verräterische Details: Im Puppenheim der Mutter, steht da wirklich ein Eames-Stuhl mit filigranster Eiffel-Base? Bläst im Soundtrack der Saxofonist Colin Stetson von Arcade Fire, und wurde da gerade der Iphigenie-Mythos ironisch laut genannt? Es sind ein paar Wimpel, an denen man Hipster-Chic erkennt: Vielleicht ist der Horrorfilm für Ari Aster ja einfach ein Designklassiker und «Hereditary» der erste Schritt in der Gentrifizierung eines Genres. Hat noch die Patina des Verfluchten, protzt aber vor allem mit Style.
Allerdings ist Horror ja immer irgendwie Vintage und zehrt vom Unheil der Vorfahren. Ari Aster hat insofern den programmatischen Schocker für die junge Horrorwelle gedreht, deren Regisseure alle das Erbgut des Genres intus haben. Denn hier erzählt einer buchstäblich vom Bösen, das eine Generation an die nächste weitergibt.
Der Horrorfilm «Hereditary» eröffnet einen Sommer der Angst: Wieso das Gruseln im Kino lustvoll ist – und was das zu bedeuten hat.
Diese Augen. Weit aufgerissen, das eine noch mehr als das andere. Die Pupillen fast unnatürlich verschoben. Dazu ein offener Mund, die Schreie sieht man, bevor man sie hört. Aber dann durchdringen sie einen, unerbittlich. Was diese Frau wohl sieht? Wollen wir es auch sehen? Ja? Nein? Ja?
Die Schreiende ist Toni Collette, Hauptdarstellerin in «Hereditary». Der Film macht seit Wochen Schlagzeilen in den USA, als «furchterregendster Horrorfilm seit Jahren». Von Kritikern wurde der Erstling des etwas über 30-jährigen Ari Aster gleich in die Reihe von Klassikern wie «Rosemary’s Baby» und «The Exorcist» aufgenommen. Das geht in Ordnung, «Hereditary» ist tatsächlich ein Meilenstein. Er sprengt die Grenzen des Genres, ohne dabei auf unmittelbare Horrormomente zu setzen.
Im Gegenteil, der Film beginnt langsam, als Familiengeschichte: gehobenes Bürgertum, Villa im Birkenwald, bitte Schuhe ausziehen beim Eintreten. Im Zentrum steht die später schreiende Annie, deren ebenfalls im Haus wohnende Mutter gerade gestorben ist. Bei der Beerdigung hält sie die Rede und kann darin kaum verhehlen, dass ihr Verhältnis zur Verstorbenen schwierig war. «Sie war ziemlich reserviert», gehört zu den positiveren Dingen, die sie sagt. Aber jetzt ist Mama tot und hat ihre Geheimnisse und Gespenster mit ins Grab genommen. Denkste!
Noch ist es allerdings zu früh, um zu schreien. Schliesslich lebt Annie, die beruflich Modelle von Häusern und Landschaften herstellt, in geordneten Verhältnissen. Da ist ihr Mann, gespielt von Gabriel Byrne, der so traurig in die Welt schauen kann, dass man ihn ständig trösten möchte (oder verbirgt er etwa etwas?). Da ist der Sohn, beflissen und lethargisch, verschliesst sich stundenlang im Zimmer (also ganz normal für seine 17 Jahre). Und da ist die Tochter, voll in der Pubertät, spricht keine drei Worte, macht dazu aber das sonderbarste Gesicht, das man seit Jahren auf der Leinwand gesehen hat (auch solche 14-Jährige kennt man). Eine ganz normale Familie also, mit ihren ganz alltäglichen Eigenheiten. Aber dann . . .
Manche Filme enden für die Zuschauer nie
Wollen wir den Horror wirklich sehen? Das ist eine der ältesten Fragen der Kinogeschichte. Schon in den Anfängen, als der Film noch eine Art Jahrmarktattraktion war, fürchtete sich das Publikum zum Beispiel vor einem einfahrenden Zug und der Tatsache, dass dieser aus der Leinwand heraus die Anwesenden überfahren könnte. Klar dachte das niemand wirklich, aber man gab sich gerne der Illusion hin. Und bekam bald Lust am wohligen Gruseln. Die erste Verfilmung von Mary Shelleys Schauerroman «Frankenstein» gab es bereits 1910 als Stummfilm. Und 1922 drehte Friedrich Murnau mit «Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens» eine «Dracula»-Version, die heute noch Bestand hat.
Diese frühen Filme nährten das wohlige Gruseln, setzten expressionistisch auf Licht und Schatten, bescherten sanfte Gänsehaut. Für den ersten wirklichen Horror aber sorgten die Surrealisten. Luis Buñuel und Salvador Dalí eröffneten 1929 ihren halbstündigen «Un chien andalou» mit einer Szene, in der einer Frau mit dem Rasiermesser das Auge zerschnitten wird. Der Schock war gewaltig. Wollen wir das sehen? Ja, die Szene – gedreht wurde mit einem Kuhauge – wird bis heute diskutiert. Auch wenn im Augenblick des Schnittes wohl die meisten wegschauen.
Seither pendeln alle Horrorfilme zwischen diesen Polen. Es gibt die Schocker, bei denen man wie auf einer Achterbahn von Effekt zu Effekt geschleudert wird, nach «The End» ist alles überstanden und rasch vergessen. Und es gibt die Filme, die ihre Wirkung sanfter entfalten, zwar hier und dort auch auf Überraschungsmomente setzen, aber nicht primär das Publikum erschrecken wollen. Sie entwickeln ihren Horror nachhaltig, wirken dafür lange nach. Zu Ende sind sie manchmal nie.
So funktioniert «Hereditary». Es gibt zwar auch einen Schockeffekt, doch er kommt so unvermittelt, dass er schon fast als Parodie durchgehen könnte, wenn er nicht so ernst wäre. Aber dann wird langsam das ganze Spektrum des Genres aufgefahren. Spukt es im Haus? Sind die Familienmitglieder besessen? Wem von den helfenden Freunden kann man trauen? Kann man sich überhaupt noch auf jemanden verlassen?
Klar gibt es auch eine politische Lesart dieser Geschichte. «Hereditary» kann als Bild der heutigen USA verstanden werden, wo der Egoismus des Einzelnen über die Verantwortung für die Gesellschaft gestellt wird. Und wo die Sehnsucht nach einem Leader, und sei dieser noch so obskur, riesig ist. Auch wenn niemand weiss, wo das hinführen soll.
Der Schrecken spielt sich auf Collettes Gesicht ab
Horrorfilme sind selbstverständlich immer ein Spiegel der Gesellschaft, in der sie entstanden sind: So können Zombies, wie sie George A. Romero erstmals 1968 in ihrer modernen Form präsentierte, unschwer als Kritik an der modernen Konsumgesellschaft verstanden werden, schliesslich wüten sie liebend gerne in Supermärkten. Und der Horrorfilm «Get Out», der es letztes Jahr bis zu den Oscars brachte, reflektiert die Situation Schwarzer in der weissen Gesellschaft.
Es kann deshalb kein Zufall sein, dass im Sommer noch einiges auf uns zukommt. Und zwar nicht nur mit Filmen wie «The Nun», einem Ableger aus der sehr erfolgreichen Okkultismus-Reihe «The Conjuring». Es gibt auch Neuinterpretationen von Klassikern wie «Halloween» (für den die damalige Scream-Queen Jamie Lee Curtis nochmals vor die Kamera tritt). Und ein Remake des Italo-Schockers «Suspiria» von Dario Argento, der jetzt von Luca Guadagnino («Call Me by Your Name») veredelt wird, selbstverständlich mit dessen Lieblingsschauspielerin Tilda Swinton.
Horror, so weit das Auge reicht also. Aber «Hereditary» hebt sich ab. Der Film erzählt das Schreckliche nämlich weniger durch das, was er zeigt. Er präsentiert es weitgehend über das Gesicht der schreienden Toni Collette. Das drückt alles aus, Entsetzen, Angst, Besessenheit. Wir lesen zuerst dieses Gesicht, um erst danach in die Realität des Bösen vorzustossen.
Wollen wir es sehen? Sicher. Und wenn wir dabei ab und zu die Augen schliessen, ist das kein Widerspruch. Sondern ein Kompliment.